Suche Abenteuer, finde Knochen
Vor einem Jahr war ich um diese Zeit für ein Literaturstipendium in Wiepersdorf/Brandenburg. In der Rückschau kommt mir die Zeit seltsam vor. Was habe ich da eigentlich gemacht? Klar, ein Buch geschrieben, aber sonst? Dieses kleine Zimmer und immer nur schreiben! Noch ein bisschen malen, dann wieder schreiben. Als das Zimmer und der Essraum mir langsam auf den Kopf fielen, musste ich die Umgebung erkunden. Einfach mal raus, das tut doch gut, kurbelt die Fantasie an und so weiter. Allerdings – ganz ehrlich: Ich bin keine Mensch für die Landschaft – oder den Wald. Ohne Schilder: Hier zum See, da zur Gaststätte, dort zum Waldspielplatz. Ohne Menschen und Hunde.
Aber das ist hier nun mal die Umgebung. Und das ist ja auch der Sinn dieses Stipendiums. Die Ruhe und Konzentration, der Austausch mit den anderen Künstlern und der Umgebung. Also gehe ich los und begegne – dem Wahnsinn. Rechts vom Weg ein Krokodil, das gierig sein Maul aufsperrt. Ein hohler Baum, abgehackt, die Splitter verteilt. Räumt denn hier keiner auf? Aber das ist ein echter, ein uriger, ein Urwald. Ich habe es entdeckt: Brandenburg Amazonien.
Lianen, die sich über zugemoste Bäume legen, die wachsen, als wüssten sie nicht wo oben ist. Ein See? So ähnlich. Vertrocknet, prähistorische Krähenspuren am Modderstrand, Grasbüschel, die mir aus Jurassic Park bekannt vorkommen. Prähistorisch, prämenschlich, denn der Mensch ist in dieser Umgebung überhaupt nicht vorgesehen. Geh doch! wispert hier jedes Blatt. Geh doch zurück in deine Stadt, wenn du das hier nicht aushältst, du Memme! Baumland.
Ich wate durch Brennnesselfelder, wo spitze Äste darauf warten, einem die Augen auszustechen. Warum habe ich mich überhaupt in das Dickicht geschlagen? Gleichzeitig bin ich fasziniert: Wahnsinn, DAS ist mal ein Wald. So muss das sein.
Amazonas und Amazon
Andere Künstler finden das auch. Der Wald und seine Geheimnisse, also gehen wir am nächsten Tag gemeinsam los. Und wie wir Künstler so sind, finden wir auch gleich etwas. Juhu, Knochen!
Ich bin lieber etwas weiter weg von den Knochen. Ich sehe am Abend immer heimlich Bones über Amazon Prime (die Hälfte der Künstler hier verabscheut Amazon) und da sieht die Sache irgendwie sauberer aus. Und nicht so echt. Ein Wildschwein? Elffriede ordnet mal alles, weil sie das immer so macht. Elffriede – Aufzeichnungssysteme. Oder ein Reh. Eigentlich ganz klar, was soll denn hier sonst so im Wald rumliegen? Höre ich mich panisch an? Ich bin etwas panisch. Ich weiß nicht mehr, wo wir die Fahrräder abgestellt haben, damals, als wir auf dem Weg nicht mehr weiterkamen -Verdammte Abenteuerlust.
„Wir können die Knochen doch mitnehmen!“
Nein, Elffriede, ganz gewiss nicht. Das hier ist nicht Bones – alles ins Lab – das hier ist Brandenburg, und die Tiere lassen wir liegen. Und falls es Menschenknochen sind, dann sollten wir wohl besser rennen. Ich fang schon mal an und haste durchs Unterholz. Der Wald?! Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Wir Menschen haben hier nichts zu suchen. Hier sind die Tiere und fressen sich gegenseitig. Hier traut sich nur Attenborough hin und filmt mit Super-Teleobjekt. Aber dann – ich bleibe stehen und sehe es ganz weit oben: Hier gibt es nicht nur Bäume. Nee, nee, sondern auch Menschen, die in kleinen Hütten wohnen. Oder in Hütten unten am Boden.
So ist das also, mit dem angeblich so verwilderten Wald. Dem Amazonasgebiet. Ha! Natürlich sind hier schon Menschen, das ist wie mit den Fliegen, die sind überall. Von wegen Baumland, von wegen Ende der Zivilisation. Die Vorhut ist längst angekommen und hat die Bäume verarbeitet und Häuser gebaut. Doch wo sind die Bewohner?
Von Mensch zu Mensch
Ich habe einen Plan. Ich gehe zurück zum Krokodil und baue mir einen Einbaum. Dann fahre ich den Brandenburg Amazonas hinunter und treffe auf die Eingeborenen. Die echten, versteht sich. (Logisch, dass die Blaumann-Männer und Kopftuchfrauen hier eigentlich gar nicht hingehören.) Kneipe? Nope! Ich habe etwas Besseres vor. Mit der lässigen Handbewegung des Forschers – Malaria? Nicht mir! – fege ich die Fliegen, die Monsterlibellen, die Raubvögel beiseite. Ich finde die Amazonen. Hier wartet das echte Abenteuer – Brandenburg, ich komme.
Als ich nassgeschwitzt hochschrecke, liegt der Kindle Fire dunkel neben mir. Die Amazonen finden? Oder vielleicht besser die Prime-Mitgliedschaft kündigen. Das Leben draußen und hier drinnen in meinem Studierzimmer – die Grenzen verschwimmen. Wie lange geht dieses verdammte Stipendium noch?
Wenn ich mir jetzt die Bilder ansehe, dass muss ich sagen – eine verrückte Zeit. Zum Glück habe ich das Buch fertig geschrieben und bin nicht durchgedreht. Ich umarme den Baum vor unserem Haus. Wir sind so gute Freunde! Mehr brauche ich nicht. Jedenfalls was die Natur angeht. Auf die Filme kann ich schon schlechter verzichten. Ein echtes Stadtkind eben.
#Kopf-Post it: Noch mal The Shinning ansehen.
No Comments