Seit mittlerweile 200 Jahren fasziniert die Geschichte von Frankenstein und seinem Monster die Menschheit. Unter den verschiedensten Aspekten wurde sie beleuchtet und hat immer standgehalten. Sei es ein religiöser, politischer oder philosophischer Gedanke, Mary Shelleys Roman hat eine Projektionsfläche geboten und war somit stets hochaktuell.
Doch was bewegt uns heute noch an der Geschichte? Welcher Aspekt ist für uns von Bedeutung?
Während vergangene Adaptionen verschiedenste Grundgedanken aus der Parabel gezogen haben, glaube ich, dass heute Viktors Forschungsdrang eine große Rolle für uns spielt.
Wir leben in einer Zeit des Fortschritts. Vielleicht können wir noch keine kompletten Menschen erschaffen, aber mit mondernster Technologie können wir tatsächlich kürzlich Verstorbene wiederbeleben. Eine Tat die damals, außer in Schauergeschichten, fast undenkbar war. Aber auch auf anderen Gebieten haben wir erhebliche Verbesserungen gemacht. Unsere Kommunikationsmöglichkeiten sind wortwörtlich in den Himmel geschossen, technische Entwicklungen scheinen ständig einen neuen Zenit zu erreichen und wissenschaftlich stehen uns alle Wege offen.
Frankenstein hatte diesen Wissensdurst auch. Diesen Drang nach Fortschritt. Er wollte nicht aufhören, wo andere Wissenschaftler aufgaben. Getrieben von den verrückten Ideen altertümlicher Forscher, wollte er das Unerreichbare erreichen. Und er war nicht der einzige in Mary Shelleys Roman mit dieser Eigenschaft. Robert Walton, der begierige Abenteurer, will unbedingt neue Entdeckungen machen. Die Kosten und Umstände sind ihm scheinbar egal. Auch das Monster ist wissbegierig und lernt so viel es kann. Und die Bewohner der einsamen Hütte unterrichten sich gegenseitig in unzähligen Bereichen.
Es ist tatsächlich kein Wunder, das Mars Shelley all ihren Figuren diesen Charakterzug verliehen hat. Sie selber war stets wissbegierig, hat unheimlich viel gelesen und gelernt. Und ich meine, wirklich unheimlich viel. Sie war immer auf der Jagd nach der eigenen Idealvorstellung von sich. Gerade in Konkurrenz zu ihrer Familie, ihren Mitreisenden, ihren Bekannten, wollte sie hochintellektuell sein. Es ging um Werte und Vorstellungen, die zu erfüllen waren. Stets gab es das Bild des perfekten Menschen, das man erreichen musste.
Doch was sind die Folgen eines so radikalen Fortschrittes? Frankenstein erschafft einen Menschen, doch er ist unfähig in der Kreatur einen Freund zu sehen. Er isoliert sich. Redet nicht mehr mit Verwandten und Freunden. Und auch das Monster selbst. Stehst von Wissensdurst getrieben, lernt es alles was es zu lernen gibt. Doch als es sich den Menschen offenbart, schafft es nicht, mit ihnen zu kommunizieren. Selbst Mary hat in ihrem Leben nicht viel erreicht, wenn man auf die persönliche Entwicklung schaut. Alles ist zu Bruch gegangen, da ihr einziger Gedanke dem intellektuellen Fortschritt galt.
Dabei liegt die Lösung so nahe. Ist so einfach.
Hier würde ich gerne auf einen TED Talk verweisen, den ich Anfang des Jahres mit Uwe in einer Live-Übertragung gesehen habe. Dan Pallotta spricht in seinem Talk The dream we haven’t dared to dream eben jene Problemstellung an.
Wir sind durchgehend getrieben vom Fortschrittsgedanken. Beschäftigen uns mit Ideen zur technischen Entwicklung. Zur Wissenschaft. Zur Religion, Politik und Philosophie. Aber was ist mit uns? Was ist mit unseren persönlichen Bedürfnissen? In der U-Bahn schauen wir uns nicht an. Im Kino muss mindestens ein Platz frei bleiben. Wir beschäftigen uns mit technischem Fortschritt, weil wir das können. Wir fliegen zum Mond, weil wir mutig sind. Doch ist es wirklich mutig, wenn es der ewig alte Weg ist?
Es mangelt uns nicht an Kommunikationsmöglichkeiten. Es fehlt uns nicht an Technik. Wir brauchen die Toten nicht wiederzubeleben. Zumindest nicht, solange wir noch persönlich damit überfordert sind. Was bringt uns unser Fortschritt, wenn wir nicht damit umgehen können? Mary Shelleys Leben war milde gesagt beschissen. Kein freudiges Ereignis lässt sich in den 53 Jahren festmachen. Was bringt einem ein erfolgreicher Roman, wenn das eigene Leben vollkommen erfolglos ist? Was bringt es, einen Menschen zu erschaffen, wenn dieser Mensch dein Leben zerstört? Was bringt uns unser Kommunikationssystem, wenn wir uns nicht trauen, einen Fremden nach dem Weg zu fragen?
Der einzige Frankenstein-Charakter, der ernsthaft und ehrlich reagiert ist der blinde, alte Mann in der Hütte. Er verurteilt das Monster nicht. Er redet mit ihm. Er weiß ja nicht, was vor ihm steht.
Ich sage nicht, dass unser Fortschritt schlecht ist, dass unser Drang, in die Zukunft zu sehen falsch ist. Aber ich denke, wir sollten anfangen, in anderen Bereichen zu forschen.
Bereiche, die nicht die Menschheit, sondern die Menschen voranbringen.
Schon seit zweihundert Jahren hören wir die Geschichte von Frankenstein.
Doch jetzt scheint sie aktueller den je.
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