Instabilität als höchste Sensibilität
Im Zustand ruhiger Instabilität herrscht hohe Sensibilität. Ein interessanter Gedanke, der mir bei der Recherche zu einem anderen Thema untergekommen ist.
Ich habe ihn zufällig gefunden — in einem Vortrag des Quantenphysikers Hans-Peter Dürr. Er erläutert diese Beobachtung an einem starren Pendel, das um einen Drehpunkt schwingt. Solange man es in Ruhe lässt – bleibt es auch in Ruhe. Hängt einfach bequem nach unten. Ruhig und stabil. Könnte ewig so hängen. Angezogen von der Schwerkraft gibt es keine Tendenz, sich aufzuschwingen. Bringt man es in Schwingung, pendelt es um den Drehpunkt, bis Reibungswiderstände und andere Energieverluste es wieder in die untere Stellung bringen. Diese Pendelbewegung ist – nicht für mich –, aber für jemanden, der einigermaßen guten Physikunterricht genossen hat, einfach auszurechnen.
Jetzt gibt es aber einen Punkt, der offensichtlich völlig anders ist, als alle anderen, die die Pendelstange einnehmen kann. Nämlich der Moment, wenn sie ganz genau senkrecht nach oben steht. Eine sehr instabile Position. Irgendwann kippt das Pendel herunter und kommt wieder in Schwingung.
Frage nur: in welche Richtung? Kippt das Pendel nach rechts oder nach links? Offensichtlich ist das nicht nur für mich nicht, sondern auch für keinen Physiker vorherzusagen und auszurechnen. Wenn ich Hans-Peter Dürr richtig verstanden habe, fragt das Pendel in dem Moment sozusagen sämtliche Informationen des Universums ab. Jeder noch so kleine, oder weit entfernte Impuls kann den Ausschlag geben. Der berühmte Flügelschlag eines Schmetterlings im Amazonas. Oder auch eine kleine Veränderung im Andromedanebel.
Ist es einmal in Schwingung, pendelt das Pendel eben so vor sich hin, bis es wieder zur Ruhe kommt. Aber an diesem einen höchsten Punkt ist es nicht nur instabil sondern auch hochsensibel. Hochsensibel für jeden noch so kleinen Anstoß, der die Richtung bestimmt.
Flash
Das erinnert mich sehr an den hochsensiblen Zustand beim Arbeiten an Skulpturen. Was gibt den Ausschlag für die nächste Entscheidung? Man macht sich offen, connected sich mit allem. Vielleicht ein Zustand, den Künstler, Musiker, Schauspieler, aber auch Extremsportler immer wieder suchen, den Punkt höchster Sensibilität. Und da die nicht anders zu haben ist, nehmen sie dafür die höchste Instabilität nicht nur in Kauf, sondern suchen sie sogar immer wieder.
Es kommt noch besser
Jetzt geht es noch einen Schritt weiter. Jetzt wird es völlig crazy. Hängt man an die erste Pendelstange noch eine oder mehrere weitere Pendelstangen, wird dieser instabile, sensible Punkt ständig erreicht. Es wird vollkommen unberechenbar, chaotisch und — sehr schön.
Übrigens eine Beobachtung, die ich als Kind schon gemacht habe, als ich versucht habe, den Rhythmus der großen Kirchenglocke zu verstehen, deren voller Klang von der Weitmarer Kirche herübergeweht kam. Jetzt weiß ich, warum das nicht ging. Er ist chaotisch. Eine Kirchenglocke ist ein Doppelpendel. Und diese spezielle Glocke hat auch so geklungen.
Dürr nennt diese instabilen, unvorhersehbaren Systeme lebendige Systeme: Wenn Sie einen Apfel fallen lassen, folgt er dem Gesetz der Schwerkraft und fällt zu Boden. Die Welt der Dinge ist die Welt der stabilen Systeme und damit voll determiniert, also vorherbestimmt. Mechanistisch bedeutet voll determiniert. Aber für lebendige Systeme reicht diese mechanistische Beschreibung nicht aus.
Die Frage ist also, wieviel Unverhersagbarkeit Lebendigkeit nötig hat und wie viel sie aushält.
No Comments