Letztens bin ich beim Googeln mal wieder abgerutscht. Ein kurzer Glitch. Runter vom Pfad des Wissens und der tiefen Erkenntnis auf eine Schwundstufe von Interesse, auch Gossip oder Voyeurismus genannt. Shame on me. Aber wer hätte bei dieser YouTube-Headline widerstehen können?
My Morning Routine with 10 Children (Part 1/3)
9,3 Millionen Aufrufe. Die Kinder sind zwischen 20 Jahre und 6 Monate alt. Die Namen der Kinder: Leonardo, Cleopatra, Jerusalem, D’Artangnan, Shakespeare, Romeo, Nefertiti, King James, Aphrodite, Omega. Okay, ihr versteht die Tragweite. Dies hier ist entweder kompletter Wahnsinn oder ein bestimmtes Prinzip. Oder beides.
Tatsächlich kann man in dem Video sehen, wie Mama Taina ihr Morgenritual durchführt. Aufstehen um 3 Uhr 30, Social Media (wer ist dann auf??), Joggen, kleines Make-up. Ganz klar das, was sich jeden Morgen abspielt. Ganz klar ein Ritual. Okay, aber der Zunami kommt ja erst, wenn die Kinder geweckt werden. Die vier kleinsten werden im Paket abgefertigt. Das Vierjährige trägt noch Windeln und trinkt aus der Flasche, die im Bett liegt. Praktisch? Wecken, Treppe runter, auf Decke nebeneinanderlegen, wickeln. Dann auf den Boden in Küche legen (wieder auf Decke), drei bekommen eine Flasche, das vierte die Brust. Das geht schnell und sieht praktisch aus. Wie am Fließband. Dann wird Frühstück gemacht. Obst auf x Teller verteilt, alle 10 Kinder erscheinen in weißen T-Shirts …
Wie die meisten Viewer bin ich fasziniert und abgestossen zugleich. (Die perfekt Mischung für ein YouTube-Video). Ich meine – ja, super, es funktioniert – aber warum denke ich ständig an Armee und Kirche und all die anderen Ort, an denen Rituale zum festen Bestandteil der Erziehung und des Gehorsams gehören? Warum kann ich mich nicht dafür begeistern, dass auch die Einrichtung im Haus entweder weiß oder leicht grau ist, etwas Holz – was braucht man mehr? Ein weißes Klavier, Kreativität spielt eine große Rolle. „Hast du deine Noten?“ Jetzt geht es ans Lernen. Homeschooling. Kelly Family? I’m confused.
Der YouTube-Kanal ist innerhalb kürzester Zeit explodiert, das wollen alle sehen. Wir (Normalmenschen) sind ja schon mit zwei Kindern überfordert. Wir haben natürlich auch kein Riesenhaus in Finnland und eine Technik, die keine Fragen offenlässt (offenbar viel Geld im Hintergrund), aber wir haben vor allem eines nicht: Die Disziplin!
Rituale
Ein Ritual (von lateinisch ritualis‚ den Ritus betreffend, rituell) ist eine nach vorgegebenen Regeln ablaufende, meist formelle und oft feierlich-festliche Handlung mit hohem Symbolgehalt. Sie wird häufig von bestimmten Wortformeln und festgelegten Gesten begleitet und kann religiöser oder weltlicher Art sein (z. B. Gottesdienst, Begrüßung, Hochzeit, Begräbnis, Aufnahmefeier usw.). (Wikipedia)
Wenn man wie wir als Künstler, Freiberufler lebt, dann fehlen bestimmte Rituale, wie das Morgens-zur-Arbeit-gehen, das im-Stau-stehen, das jeden Monat Gehalt-aufs-Konto bekommen. Wie man schnell erkennt, ist einiges ziemlich abgefahren und anderes – nun – unbequemer. Könnte man sich nur das Beste raussuchen, wäre es ideal. Was wir aber alle wissen: Rituale, immergleiche Abläufe, erleichtern Dinge. Am besten immer zur gleichen Zeit, so macht es der Körper, so macht es die Natur, die Sonne geht auch nicht unter, wenn sie Bock drauf hat.
Feste – Rituale
Ich liebe – bestimmte – Rituale. Ich habe eine kleine Menge von Mini-Ritualen, die hautpsächlich meine Körperpflege betreffen, eine große Anzahl von Midi-Ritualen, die mein künstlerisches Leben betreffen und eine überschaubare Anzahl von Maxi-Ritualen, die jedes Jahr meine ganze Aufmerksamkeit brauchen.
Weihnachten, zum Beispiel, in ein paar Tagen ist es mal wieder so weit. Der alljährliche Adventskranz. Selbst gemacht, sogar das Grün wird von Hand gewickelt. Oder der Baum – oh, der Baum! Aufgestellt am 24. 12 und keinen Tag früher, abgebaut spätestens Mitte Januar, da ich dann Geburtstag habe und – sorry, ein Ritual sollte nicht in ein anderes hineinfaden. Rituale beruhigen, man kann auf sie hinleben, sie genießen, da sie selten große Überraschungen bereiten. Jedenfalls nicht, wenn man in seinem Kulturkreis bleibt.
Zwang und Rituale
Rituale sind ein Phänomen der Interaktion mit der Umwelt und lassen sich als geregelte Kommunikationsabläufe beschreiben. (…). Sie finden überwiegend im Bereich des menschlichen Miteinanders statt, wo rituelle Handlungsweisen durch gesellschaftliche Gepflogenheiten, Konventionen und Regeln bestimmt und in den unterschiedlichsten sozialen Kontexten praktiziert werden können (Begegnungen, Familienleben, Herrschaftsvollzüge, Veranstaltungen, Feste und Feiern, religiöse Kulte und Zeremonien usw.). Zugleich sind Rituale oder ritualisierte Handlungsweisen aber auch auf der Ebene des individuellen Verhaltens anzutreffen (persönliche Rituale, autistische Rituale, Zwangshandlungen). (Wikipedia)
Zwangshandlungen – hört sich schon weniger schön an. Und – ja – das kenne ich auch. Ganz schnell wird aus dem entspannten Ritual, ein zwanghaftes MUSS. Dann muss um 19 Uhr gegessen werden, und man muss vor acht schlafen oder sich ununterbrochen die Hände waschen.
Der Übergang von einer gesunden Routine zu einer zwanghaften Handlung – eine minimale Verschiebung, viel weniger als ein Katzensprung. Sowohl persönlich als auch familiär, gesellschaftlich. Gerade hat man sich noch daran festgehalten, dass es bei Mama und Papa am Sonntag immer Kuchen gibt, da geht es einem schon auf die Nerven und engt einen ein. Jedesmal zu Weihnachten Socken zu schenken/bekommen, kann eine liebenswerte Geste und Wiederholung sein, ein ganz persönlicher Code oder eine unüberlegte Routine, die dann auch so ankommt: Lieblos. Von Ritual zu Routine – auch nur ein kleiner Schritt.
Good or Bad or – What?
Wie das so ist mit den Dingen im Internet – sie sind nicht immer alle wahr. Oder so schön Weiß wie sie aussehen. Daher soll man nicht allem glauben, was man sieht und sich nicht so schnell aus der Routine/Ruhe/rationalen Haltung bringen lassen.
Ganz ohne Wertung (und Garantie auf Richtigkeit) hier nun also das, was die ich über die Familie mit ihren 10 Kindern im Internet herausgefunden habe.
- Vater Paul offenbar ein streng religiöser Anhänger von verschiedener Kulte. Hat einen Prediger-Channel und treibt sich in einschlägigen Foren herum.
- Vater ein Doomsday-cultist. Dachte, die Welt geht 2013 unter. Beginnt jeden Facebook-Post mit: The end is near.
- Vater hat auch Podcast. Username: elohimisjesus
- Mutter des Vater ist eine Predigerin und Doomsday-Anhängerin.
- Haus der Großfamilie ist schon seit einem Jahr zum Verkauf angeboten (daher so wenig Möbel?)
- Channel offenbar ein Mittel, schnell an Geld zu kommen.
- Userzahlen steigen unwahrscheinlich schnell an, daher wird Kauf von Klicks vermutet.
- Familie lebt offenbar von staatlichen Zuwendungen, was in Finnland mit 10 Kindern gut möglich ist.
- Das Haus gehört ihnen nicht, der Eigentümer verkauft das Haus.
- Kinder auf Decke zu legen, ist nicht nur irgendein Ritual, sondern … lying down has been linked to ‚blanket training‘, a method used by some Christian fundamentalists to instill obedience in their children.
Moment mal … Deckentraining? Im Forum finde ich: „It’s from Michael Pearl’s „To train a Child‘ where he claims that a child’s spirit needs to be broken in order to be obedient in early life. He suggests tapping a baby firmly on bare legs with a hazel ’switch‘ when the baby moves of the blanket. This means that the mum can do her household chores knowing that the baby will just sit there for up to 30 minutes.“
Und — ich bin raus.
Der Übergang von Ritual zu Routine zu Zwangshandlung findet meist unmerklich statt. Doch manchmal muss man mit Ritualen brutal brechen – auch wenn es um das Ansehen von YouTube-Videos geht.
Euch ganz wunderbare Weihnachten – mit und ohne Rituale.
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